Herrschende Meinung

Die kleinsten Unteroffiziere sind die stolzesten.

Ich habe sehr oft schon darüber nachgedacht, worin sich eigentlich das große Genie von dem gemeinen Haufen unterscheidet. Hier sind einige Bemerkungen, die ich gemacht habe. Der gewöhnliche Kopf ist immer der herrschenden Meinung und der herrschenden Mode konform; er hält den Zustand, in dem sich alles jetzt befindet, für den einzig möglichen und verhält sich leidend bei allem. Ihm fällt nicht ein, daß alles von der Form der Möbel bis zur feinsten Hypothese hinauf in dem großen Rat der Menschen beschlossen werde, dessen Mitglied er ist. Er trägt dünne Sohlen an seinen Schuhen, wenn ihm gleich die spitzen Steine die Füße wund drücken, er läßt die Schuhschnallen sich durch die Mode bis an die Zehen rücken, wenn ihm gleich der Schuh öfters steckenbleibt. Er denkt nicht daran, daß die Form des Schuhs so gut von ihm abhängt, als von dem Narren, der sie auf elendem Pflaster zuerst dünne trug. Dem großen Genie fällt überall ein: Könnte auch dieses nicht falsch sein? Er gibt seine Stimme nie ohne Überlegung. Ich habe einen Mann von großen Talenten gekannt, dessen ganzes Meinungssystem so wie sein Möbelvorrat sich durch eine besondere Ordnung und Brauchbarkeit unterschied. Er nahm nichts in sein Haus auf, wovon er nicht den Nutzen deutlich sah; etwas anzuschaffen, bloß weil es andere Leute hatten, war ihm unmöglich. Er dachte: So hat man ohne mich beschlossen, daß es sein soll, vielleicht hätte man anders beschlossen, wenn ich mit dabei gewesen wäre. Dank sei es diesen Männern, daß sie zuweilen wenigstens wieder einmal schütteln, wenn es sich setzen will, wozu unsere Welt noch zu jung ist.

Chinesen dürfen wir noch nicht werden. Wären die Nationen ganz voneinander getrennt, so würden vielleicht alle, obgleich auf verschiedenen Stufen der Vollkommenheit, zu dem chinesischen Stillstand gelangt sein.

Georg Christoph Lichtenberg
Aphorismen – Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Kurt Batt, Insel-Taschenbuch 165 (1. Auflage 1976)

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