Die Philosophie des gemeinen Mannes

„Der Mensch vergibt sich nichts, ohne etwas zu erwarten; daher das Sammeln des Lohns im Himmel, Geißelung und dergleichen. Die Philosophie des gemeinen Mannes ist die Mutter der unsrigen; aus seinem Aberglauben konnte unsere Religion werden, so wie unsere Medizin aus seiner Hausmittelkenntnis. Er tat etwas, ohne Belohnung vorauszusehen; er erhielt sie aber auch, ohne sich eines kurz vorhergängigen Verdienstes bewußt zu sein; was war natürlicher als eine Verbindung zwischen jenem Verdienst und dieser Belohnung zu finden? Was konnte für den Religionsstifter wichtiger und was der Gesellschaft nützlicher sein? So wurde der Mensch aus Eigennutz uneigennützig, und was ihm das Glück ohnehin zugeführt hätte, wurde ihm als eine Bezahlung angerechnet, die ihn noch mehr verpflichtete.“

Georg Christoph Lichtenberg
Aphorismen – Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Kurt Batt, Insel-Taschenbuch 165 (1. Auflage 1976)

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